Ulrike Draesner zählt zu den Autorinnen, die mit Klugheit, Genauigkeit und Fantasie, Verhülltes und Verstecktes ergründen, Blickrichtungen auf Vertrautes hinterfragen. Das beweist sie erneut mit ihrem Postepos „penelopes sch( )iff“. Darin nimmt sie sich einen gewaltigen mythischen Stoff der abendländischen Kulturgeschichte vor: Homers Odyssee. Die Schilderung seiner Ehefrau Penelope – Inbegriff der treuen Gattin – stellt Draesner in ihrem jüngsten Band entschieden infrage: „Es war schwierig, Penelope zu sehen. Nur ein Aspekt der Figur, ihre makellose Erfüllung der Gattinnenrolle, leuchtete. Für mich: wie ein Filmplakat aus der Ideologiefabrik meiner Mutter. Frauen dienen Männern, sind treu und bescheiden. Doch wo war die Person? Ihr Innenleben? Ihre Geschichte?“ Als deutlich wird, dass der so traumatisierte wie brutalisierte Kriegsheimkehrer Odysseus als Herrscher nicht mehr tragbar ist, sticht Penelope gemeinsam mit hundert Frauen in See. Auf einem eigens angefertigten Schiff entkommen sie den Verfolgern. Indem die Frauen ihre Rollen überdenken, bringen sie Ordnungen zu Fall. Sie suchen ein anderes Zuhause, das erst herzustellen sein wird. Ulrike Draesner beschreibt diese Prozesse in einem Text- und Klanggewebe, das den Mythos neu belebt: „Kommt davon, rennt hinaus, nimmt eine neue Gestalt an. / Das Gegenteil von Warten: sie, die sich schreibend bewegt“.
Beate Tröger
Auszeichnungen u. a.: Preis der Literaturhäuser (2002), Droste-Preis der Stadt Meersburg (2006), Solothurner Literaturpreis (2010), Joachim-Ringelnatz-Preis für Lyrik (2014), Nicolas-Born-Preis (2016), Deutscher Preis für Nature Writing, Bayerischer Buchpreis (2020), Großer Preis des Deutschen Literaturfonds (2021), Spycher: Literaturpreis Leuk (2023), Eichendorff-Literaturpreis, Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung (2024).
Veröffentlichungen (zuletzt):
– „hell & hörig“, Gedichte, Penguin, München 2022
– „Die Verwandelten“, Roman, Penguin, München 2023
– „zu lieben“, Roman, Penguin, München 2024
– „Sich ein Herz fassen. Göttinger Lichtenberg-Poetikvorlesung“, Wallstein, Göttingen 2025
– „penelopes sch( )iff. postepos“, Penguin, München, August 2025