Das größtmöglich denkbare und zugleich für alle Menschen auf der Erde gleichermaßen wahrnehmbare Naturphänomen – der Sternenhimmel – diente zu allen Zeiten als Projektionsfläche für Mythen, Wertvorstellungen und Lebensbilder. Diese Geschichten gehören zu den ältesten der Welt. Eine Kultur versteht erst, wer auch ihren Sternenhimmel kennt. Unser Großer Wagen war für die Maya ein göttlicher Papagei, für die Inka der Gott des Gewitters, für die Inuit ein Elch, für die Araber eine Totenbahre. Ein faszinierendes Stück Menschheitsgeschichte, gespiegelt im weltumspannenden Netz der Sterne.
Die UNESCO hat die Sternenhimmel der Menschheit zum ungreifbaren Kulturerbe der Menschheit erklärt, ohne dass sie bislang jemals umfassend erforscht und dokumentiert worden sind. Entstanden in einer Zeit lange vor der Schrift, haben einzelne Kulturen mittels ihrer kollektiven Einbildungskraft darin ihre ältesten Kunstwerke entworfen. In den Sternbildern zeichnen sie die Figuren, die für die jeweilige Gemeinschaft zentral waren. In manchen indigenen Kulturen sind sie noch heute relevant – in der Arktis, in Mittelamerika, den Anden, Brasilien, Indonesien oder Australien. Sie sind mehrere Jahrtausende alt, bei australischen Aborigines sogar Jahrzehntausende. Wie die Übereinstimmungen der Sternenhimmel weltweit – trotz ihrer großen Unterschiedlichkeiten – verraten, scheinen sie alle eine gemeinsame Wurzel aufzuweisen, die wohl auf den Homo sapiens zurückgeht, als er aus Ostafrika wanderte, um die Welt zu besiedeln.
Der vielfach ausgezeichnete österreichische Autor Raoul Schrott – der schon mit „Erste Erde“ eine intensive Auseinandersetzung mit dem heutigen Wissen über die Welt vorgelegt hat – entführt uns mit seinem Buchprojekt „Atlas der Sternenhimmel und Schöpfungsmythen der Menschheit“ auf eine literarisch-kosmische Reise: Zwischen Wissenschaft, Mythos und Poesie erkundet Schrott in seinem Werk die Himmelskarten der Kulturen und fügt diese zu einem einzigartigen Epos der Menschheitsgeschichte. Sein Atlas versammelt 17 Sternenhimmel von allen Kontinenten: von den Alten Ägyptern bis zu den australischen Aborigines, aus China, Indien und Tahiti, von den Inuit und den Tuareg. Der Sternenhimmel ist für diese Kulturen ein Bilderbuch der Nacht, in dem ihre Urahnen von Mensch und Tier, die Schöpferwesen, Götter, Helden und wichtigsten Objekte dargestellt werden. Die dazu erzählten, hier ebenfalls erstmals gesammelten Sternsagen, erklären ihre Bedeutung. Die Schöpfungsmythen sind dabei zentral: sie schildern, wie Himmel und Erde samt den Gestirnen entstanden und wie die ersten Wesen der Welt in den Himmel gelangten, um sich seitdem in den Sternbildern zu zeigen. Die Zusammenschau von Sternbildern, Sternsagen und Schöpfungsmythen bringt so ein großes, aber völlig in Vergessenheit geratenes Stück Menschheitsgeschichte wieder zum Vorschein.
Als Raoul Schrott entdeckte, dass die Ägypter völlig andere Sternbilder hatten als die unseren, kam er auf die Idee für dieses Buchprojekt. Er machte sich auf die Suche nach den Bildern, die andere Kulturen in den immer gleichen willkürlich verstreuten Lichtpunkten der Nacht sahen. Ein großes Unterfangen mit jahrelanger Forschung – denn es hat einen einfachen Grund, weshalb bisher noch niemand die Sternenhimmel umfassend dokumentiert hat. Die Quellen sind so verstreut, dass umfangreiche Forschungsreisen erforderlich waren, sie ausfindig zu machen: in Berichten von Missionaren, Ethnologen oder Reisenden vor zweihundert Jahren, auf uralten Monumenten oder indigenen Texten und Zeichnungen, in Felsmalereien. Schon die Suche danach war ein Abenteuer.
Von diesem Abenteuer wird Raoul Schrott im Markgrafentheater berichten und mit uns in die Sternenhimmel blicken. Mit dem 1280 Seiten umfassenden und vier Kilogramm schweren Buch lassen sich die Mythen und die Sternenhimmelkarten auch mit nach Hause nehmen.
Raoul Schrott: Atlas der Sternenhimmel und Schöpfungsmythen der Menschheit. Hanser, München 2024
Lesung mit Projektionen von Raoul Schrott
Sonntag, 31.08.2025
20:00
Eintritt: von 10,– / 5,– / 3,50 bis 21,– / 16,– / 8,50 Euro