Privatleute mit einer papierdünnen Haut
„Wer heute seine politischen Essays, seine Reden, seine Zwischenrufe, ja seine Leserbriefe liest, dem stockt der Atem vor so viel Angriffslust, sprachlicher Zuspitzung, triefender Ironie“, so Eva Menasse in ihrer Dankesrede bei der Verleihung des Heinrich-Böll-Preises der Stadt Köln im Jahr 2013. Und sie fährt fort, dass es heute offenbar unmodern geworden sei, sich als Schriftsteller*in politisch zu engagieren. „Worin, bitte, geschätzter Autor, geschätzte Autorin, besteht denn Ihre Expertise, sich zu äußern? Haben Sie ein Rentenkonzept in der Schublade? Oder eine bessere Idee, die Finanzkrise zu lösen? Wollen Sie sich mit diesem tagespolitischen, gar parteipolitischen Dreck Ihre zarte Poetenhand ruinieren?“
Eva Menasse selbst äußert sich immer wieder zu tagespolitischen oder gesellschaftlich aktuellen Fragen, mit allen damit verbundenen Risiken. Zuletzt auch in ihrem Essay-Band „Alles und nichts sagen. Vom Zustand der Debatte in der Digitalmoderne“, in dem sie darüber nachdenkt, was die digitale Massenkommunikation ihrer Sicht nach in der Gesellschaft und zwischenmenschlich anrichtet. „Als wäre es eine Weltformel, können die Dauervernetztheit der Menschen, ihr Dauergespräch, ihr Dauerstreit zur Erklärung von so vielem, fast allem, herangezogen werden, was in den letzten Jahren scheinbar so unerklärlich angeschwollen ist, die Wut, der Hass, die Überforderung, der Frust, der grassierende Irrationalismus, die Verschwörungserzählungen und die politische Extremisierung.“ Im Gegensatz zu ihren gefeierten Romanen wurde dieses Buch von der Kritik kontrovers aufgenommen. Aber sie geht dieses Risiko bewusst ein.
Eva Menasse wurde 1970 in Wien geboren, wo sie nach der Matura 1988 Germanistik und Geschichte studierte. Bereits während des Studiums begann sie als Journalistin für das Nachrichtenmagazin „profil“ zu arbeiten. Nach einem mehrmonatigen Aufenthalt in Prag 1999 ging sie als Kulturredakteurin der FAZ nach Berlin. Anfang 2000 berichtete sie mehrere Wochen lang vom Prozess des Holocaustleugners David Irving in London. Ihre Rechercheergebnisse und ihre persönlichen Erfahrungen hielt sie in ihrem ersten Sachbuch „Der Holocaust vor Gericht“ fest. Im Sommer 2000 kehrte sie nach Wien zurück, um dort die Stelle der Feuilleton-Korrespondentin der FAZ zu übernehmen. Als ihr für die ersten Kapitel des Romans, der später „Vienna“ heißen sollte, das Arbeitsstipendium des Darmstädter Literaturfonds zuerkannt wurde, ließ sie sich beurlauben und zog Anfang 2003 wieder nach Berlin.
Der Familienroman „Vienna“ erschien im Jahr 2005 und begründete Eva Menasses Erfolg als Schriftstellerin. Im Programmheft des 25. Erlanger Poet*innenfests schrieb Maike Albath damals: „Es ist so, als sei man unbeabsichtigt bei einem Familientreffen gelandet: Schon auf den ersten Seiten von Eva Menasses Debüt ‚Vienna‘ wird der Leser zum Adoptivkind der Wiener Mischpoke, so unwiderstehlich strömen die Legenden, Anekdoten und Geschichten auf einen ein.“ Im Jahr 2009 folgte ihr Erzählband „Lässliche Todsünden“, den sie ebenfalls in Erlangen vorstellte. Darin schreibt sie zu jeder der sieben Todsünden eine Geschichte. So gelingt ihr ein Panorama aktueller Gefühlslagen und Lebensentwürfe.
Auch der 2013 folgende Roman „Quasikristalle“ wird mit zahlreichen Preisen geehrt. Es folgen die gesammelten Essays „Lieber aufgeregt als abgeklärt“ (2015), die Fabeln „Tiere für Fortgeschrittene“ (2017) und 2021 der nächste große Roman „Dunkelblum“, ein schaurig-komischer Epos über Wunden in der Landschaft und den Seelen der Menschen. Eva Menasse erzählt darin die historische Begebenheit von einer kleinen österreichischen Stadt als Schauplatz der Weltpolitik.
Weiterhin engagiert sich Eva Menasse politisch. Als der Streit im deutschen PEN-Zentrum 2022 eskalierte, gehörte sie zu den Mitbegründer*innen des PEN Berlin und war gemeinsam mit Deniz Yücel bis 2024 dessen Sprecherin. Sie äußert sich zu Fragen der Flüchtlingspolitik, zur Situation im Nahen Osten und zu deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine. Vor zwei Jahren traf sich Eva Menasse schon einmal mit Korbinian Frenzel zu einem Gespräch im Humboldt-Forum in Berlin, dabei ging es in erster Linie um politische Fragen. Beim Erlanger Autorinnenporträt sollen beide Seiten der Schriftstellerin und politischen Intellektuellen beleuchtet werden. Wie Eva Menasse in ihrer anfangs erwähnten Rede sagt: „Vielleicht ist ja der Künstler, der sich politisch äußert, die einzige authentische politische Figur. Die anderen sprechen als Profis. Wir aber fallen aus der angestammten Rolle und werden zu Privatleuten mit einer papierdünnen Haut, sobald wir uns öffentlich mit der Welt außerhalb unserer Werke beschäftigen.“
aktuell: Alles und nichts sagen. Vom Zustand der Debatte in der Digitalmoderne. KiWi. Köln, 2023